Die kanadische Provinz in den 20er Jahren: Marie muss den Tod ihres Mannes, des Warenhändlers Felix, verkraften, der uns als „Stimme von außen“ durch die Geschichte führt. Marie betreibt das einzige Geschäft des kleinen Dorfes Notre-Dame ohne ihn weiter, obwohl sie das in ihrem Inneren gar nicht wirklich möchte. Derweil geht das Dorfleben seinen gewohnten Gang. Die Bewohner gehen ihrer Arbeit nach, während die Kinder spielen und zur Schule gehen. Der Tod eines Neugeborenen muss verarbeitet werden und bei Dorffesten wird sich auch mal zünftig geprügelt. Der neue Pfarrer muss sich an die Eigenheiten der Bewohner gewöhnen und dabei auch zu sich selbst finden. Und überall schwingt das ein oder andere Geheimnis mit.
Die Jahreszeiten ziehen vorbei und eines Wintertages strandet Serge in dem kleinen Dorf, als sein Moped nicht mehr funktioniert. Er freundet sich mit Marie an und kommt bei ihr unter, was in dem Dorf für reichlich Gesprächsstoff sorgt. Ein Fremder, der bei einer Witwe wohnt? Geht ja gar nicht! Doch nach und nach kommt Serge auch bei den anderen Bewohnern gut an, ist hilfsbereit und kocht sogar für sie. Als jedoch im Frühjahr die Männer des Dorfes von ihrer harten Winterarbeit, dem Holz fällen im tiefen Wald, zurück kehren, sind sie mit dem „Eindringling“, der sich so gut mit dem Rest des Dorfes versteht, so gar nicht einverstanden. Marie hingegen möchte Serge gar nicht mehr gehen lassen …
Eine höchst menschliche Geschichte im Kanada der Zwanziger Jahre
Tja, da ist es nun. Die hochgelobte Serie Das Nest von Régis Loisel und Jean-Louis Tripp wurde jüngst beim Carlsen Verlag als Gesamtausgabe neuaufgelegt, nachdem die regulären Alben mittlerweile vergriffen und nur noch für viel Geld zu haben sind. Viel habe ich über Das Nest gehört, wie toll die Geschichte sein soll und welch schöne Zeichnungen sie bereit hält. Doch die Grundidee der Geschichte mochte bei mir bisher noch nicht zünden. Als sich mir nun die Chance bot, günstig an Band eins der Gesamtausgabe zu kommen (Danke, Rüdiger! Grüße ins Alpenland!), schlug ich zu. Und was soll ich sagen … der erste Eindruck bestätigte sich, vorerst.
Die Zeichnungen sind wirklich wunderschön. Hintergründe, Figuren (obwohl sie manchmal schon etwas seltsam aussehen), Schattierungen, viele Details – das ist große Klasse, was Jean-Louis Tripp aufs Papier gebracht hat. In die Geschichte kam ich jedoch anfangs relativ schwierig rein. Sie lässt sich aber auch Zeit. Man erfährt einiges über die Bewohner, bekommt Einblicke in das Gefühlsleben von Marie – aber vieles bleibt noch im Dunkeln oder wird nur kurz angerissen. Manches ist sehr soapig, gar langweilig und belanglos und manches dann wieder so unglaublich realitätsnah, dass es wie aus dem wirklichen Leben wirkt.
Ich wusste, nachdem ich fertig mit lesen war, wirklich nicht, was ich von Das Nest halten sollte. Ich brauchte eine Nacht, um rückwirkend festzustellen, dass das, was auf der Rückseite des schlichten, aber sehr hübschen Hardcovers steht, absolut richtig ist: Das Nest ist eine ganz große Graphic Novel.
Fazit
Nun hab ich den Salat. Ich will nun doch wissen, wie es weiter geht, mit Marie, Serge, dem Pfarrer und den anderen Bewohnern des kleinen Dorfes Notre-Dame in der kanadischen Provinz der Zwanziger Jahre. Wer einen Comic lesen möchte, bei dem viel passiert und große Action und/oder Humor an der Tagesordnung ist, der ist hier falsch. Wer aber eine ruhige, melancholische und dabei doch eine wirklich schöne Geschichte haben möchte, dem kann ich Das Nest nur empfehlen. Ich jedenfalls werde nicht das letzte Mal in Notre-Dame gewesen sein.