
(Bild: Carlsen Comics)
Wir befinden uns im Berlin der Jahre zwischen 1928 und 1933. Die junge, idealistische Kunststudentin Marthe Müller, die aus der Provinz in die Großstadt zieht, versucht dort ihren Platz im Leben – und in der Kunst – zu finden. Sie trifft auf den abgeklärten Journalisten Kurt Severing, einen Intellektuellen, der zunehmend an der Wirksamkeit des geschriebenen Wortes zweifelt, während der gesellschaftliche Ton rauer wird. In Laufe dieser Bekanntschaft lernt Marthe weitere Menschen kennen, unter anderem die homosexuelle Anne, die ihr eine andere Stadt jenseits der politischen Unruhen zeigen.
Im Hintergrund brodelt das Berlin der späten Weimarer Republik: Kommunisten, Nationalsozialisten, Gewerkschafter, Künstlerinnen, Juden, Arbeiterkinder – wir sehen ein dichtes Netz an Lebensrealitäten, das exemplarisch für eine Zeit des Übergangs steht. Die Gewalt auf den Straßen nimmt zu, Freundschaften und Liebesbeziehungen zerbrechen an Ideologien, und selbst alltägliche Begegnungen spiegeln die zunehmende Zerrissenheit einer Gesellschaft wider, die auf eine Katastrophe zusteuert …
Ästhetik trifft akribische Recherche
Berlin von Jason Lutes ist kein klassischer Historiencomic, sondern ein fein beobachtetes Zeitporträt, das sich mit viel Empathie den „kleinen Leuten“ widmet – also jenen, die Geschichte erleben, ohne sie zu machen. Über 600 Seiten hinweg entfaltet sich ein beeindruckend vielschichtiges Panorama der Weimarer Republik, das politische Umbrüche, soziale Spannungen und persönliche Schicksale kunstvoll miteinander verwebt.
Die Zeichnungen sind schwarz-weiß, klar und präzise gehalten. Jeder Straßenzug, jede Uniform, jede Kneipe wirkt wie aus einem Archivfoto herausgezeichnet. Lutes verleiht der Stadt ein Gesicht, das gleichzeitig fremd und vertraut ist. Dabei verzichtet er bewusst auf visuelle Effekthascherei und setzt stattdessen auf ruhige Panelführung und viel Atmosphäre.
Was Berlin so stark macht, sind aber seine Charaktere. Sie sind keine Symbole, sondern echte Menschen mit Widersprüchen, Ängsten und Träumen. Hauptfigur ist natürlich Marthe Müller, die aus Köln in die Hauptstadt zieht, voller Hoffnung, Selbstfindung und mit einem offenen Blick auf die Welt. Ihr Gegenpart ist Kurt Severing, ein desillusionierter Journalist. Er kämpft mit dem Verlust von Idealismus und dem Gefühl, dass Worte gegen die nahende Katastrophe machtlos sind. Und dann ist da Silvia, ein Kind, das in die politischen Wirren der Arbeiterschaft hineingezogen wird. Es sind also nicht die großen historischen Figuren (die dennoch auftauchen!), die hier glänzen, sondern die kleinen Geschichten, die das große Ganze greifbar machen.
Fazit
Berlin ist keine leichte Kost. Aber wer sich darauf einlässt, wird mit einem der bedeutendsten Comics der letzten Jahrzehnte belohnt. Die Stadt wird in Lutes’ Comic nicht bloß zur Kulisse – sie ist ein eigener Charakter. Ein Berlin, das lebt und pulsiert, mit Jazzclubs, Straßendemonstrationen, Cafés, Barrikaden. Und über allem schwebt das Gefühl einer brüchigen Zeit. Es ist Geschichtsunterricht, Gesellschaftsanalyse und bewegendes Drama in einem. Für Comicfans mit Anspruch und historisch Interessierte eine absolute Pflichtlektüre. Vor allem aber ist es eines: Ein mahnendes Zeugnis dessen, was nie wieder passieren darf. Und das ist, gerade in der jetzigen weltpolitisch so hochexplosiven Zeit, wichtiger und aktueller denn je!